Prof. Stephan Tanneberger – ein Leben im Dienste des Menschen
Silbersiegel der Universität Bologna – verliehen von der Universität Bologna, Italien, an Prof. Dr. Dr. med. Stephan Tanneberger, Bologna. Er erhielt die Auszeichnung für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Onkologie in Europa und in Ländern der Dritten Welt, seine Leistungen auf dem Gebiet der akademischen Lehre und seinen Einsatz in der Friedensarbeit.
(Dtsch Arztebl 2012; 109(19): https://www.aerzteblatt.de/archiv/125789/Verleihungen)
Artikel von Dr. med. Gerhard Machalett, Siedenbollentin
Er war einer der prominentesten Ärzte der DDR, Direktor des Zentralinstituts für Krebsforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, in dem er seit 1972 tätig war. „Arzt wird man aus Überzeugung, Chefarzt aus Überzeugungskraft“ war sein Credo. Am 5. März 2018 ist Prof. Stephan Tanneberger gestorben. Nur die lokalen Medien und der „Nordkurier“ meldeten seinen Tod nach schwerer Tumorerkrankung. Das „Deutsche Ärzteblatt“ und das „Ärzteblatt M/V“ ignorierten den Tod des Mediziners, als hätte es ihn nie gegeben. Tanneberger lebte in Liepen auf Usedom, nachdem er seine Aktivitäten im Auftrag der WHO beim Kampf gegen den Krebs beendet hatte. Der Arzt behandelte unter anderem Lara Allende-Gossens, die Schwester Salvador Allendes. Seine Patientinnen waren auch Brigitte Reimann, die darüber in ihrem Buch „Es wird einen schönen Frühling geben“ schreibt, und Maxi Wander, nachzulesen in „Leben wär’ eine prima Alternative“.
2006 wurde er in einem Interview gefragt, warum im „wiedervereinigten“ Deutschland kein Platz mehr für ihn war: „Das ist eine Frage, die sie denen stellen müssen, die die Wiedervereinigung politisch gestaltet haben. Die Krebsforschung und -bekämpfung der DDR war 1990 im Vergleich mit der BRD nicht schlechter, in einigen Bereichen sogar besser. Dennoch wurde die Arbeit der DDR-Wissenschaftler bis heute systematisch verschwiegen. Über das Vergessen bin ich traurig, denn das war die Lebensleistung vieler hervorragender Wissenschaftler, Ärzte und Schwestern, und es war Hilfe für mehr als 100 000 Krebskranker in der DDR.“ Leider war das kein Einzelfall, wie der Umgang mit solch hochverdienten Wissenschaftlern wie Prof. Klinkmann aus Rostock oder Prof. Bibergeil aus Karlsburg, um nur zwei Persönlichkeiten aus meiner Region zu nennen, beweist. Nach 1990 hat Tanneberger seine Karriere im Dienst der WHO fortgesetzt (Professur in Bologna und Novi Sad). Er versuchte in mehreren Entwicklungs- und europäischen Ländern wie Italien ein Palliativsystem für Krebspatienten zu realisieren. Es war ein Abtauchen in eine Welt der Armut und Tristesse. Sein ganzes Engagement galt dem Ziel, den Menschen ein Leben in Würde zu Hause bis zum Tode zu ermöglichen. Dabei wollte er nie Verdiener, sondern Diener am Patienten sein. Bereits vor 50 Jahren versuchten die Onkologen, die Krebs-Chemotherapie zu individualisieren. Schwierigkeiten bestanden in “neoplasma-spezifischen Zelldefektes” erwies sich als wissenschaftliche Illusion.
Heute stehen wir bei der Inflation neuer Krebsmittel vor einer Ausgabenexplosion unerhörten Ausmaßes. Mit der neuen Generation von Krebstherapeutika konnte mit fast drei Milliarden Euro pro Jahr Gewinn für die Pharmaindustrie die Überlebensrate von Krebspatienten um drei Monate erhöht werden. Damals bereits forderte Tanneberger eine personalisierte Medizin in einem anderen Sinne – ein neuer Blick auf den Patienten war notwendig. Seine Bedürfnisse und Gefühle sollten das zentrale Thema der Personalisierung sein. Vor allem der alte Patient hat andere Erwartungen als nur den Zugang zu teuren und hochspezialisierten Pharmaka. Der Mensch gehört in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses. Sicherung eines guten Lebens bis zum Tod, die „Eubiosie“ als Menschenrecht gilt es durchzusetzen. Es geht also nicht um „Leben zu jedem Preis“, sondern um die Wahrnehmung des Patienten in seinem Menschsein. Aus seinen jahrzehntelangen Erfahrungen beim Umgang mit der Krebserkrankung leitete sich das ethische Credo Tannebergers ab: „Nicht das Leben schlechthin, sondern das sinnvolle und akzeptable menschliche Leben ist normierend für die konkrete Verwirklichung der Ehrfurcht vor dem Leben.“ Unter Sterbehilfe verstand er gute Pflege, Bekämpfung von Schmerzen, Psychopharmaka und Sterbebeistand.
Seine Tätigkeit als Krebsforscher ließ ihn zum Pazifisten und bekennenden Friedensaktivisten werden. Es wurde Mitbegründer des Zentrums für Friedensarbeit „Otto Lilienthal“ im ehemaligen Militärgefängnis in Anklam. An seinem politischen Engagement scheiden sich die Geister. Vor allem seine herausgehobene Position in der DDR belastete ihn in den Augen von CDU-Kreisen auch in Anklam. Mit gehässigen Anschuldigungen versuchten die heute politisch vorherrschenden Kreise, ihn zu diskreditieren. So soll er „Stalinismus in der Forschung“ betrieben haben. Seine „Nachwende“aktivitäten wurden als „Umtriebigkeit“ diffamiert, sein Friedensengagement als Verschleierung des Umstands, für den „DDR-Unrechtsstaat“ gearbeitet zu haben, diskreditiert. Ich bin dem Krebsforscher leider nur einmal persönlich begegnet. Anläßlich einer Beratung zur Krebstherapie Mitte der 70er Jahre meines akademischen Lehrers Prof. Gestewitz an der militärmedizinischen Akademie in Bad Saarow mußte ich als Leiter des klinischchemischen und hämatologischen Instituts Angaben zu meinen Untersuchungsergebnissen zur Immuntherapie machen. 2017 wollte ich ihn zu einem Gedankenaustausch zu ethischen Fragen in seinem Wohnort auf Usedom aufsuchen. Leider kam das Treffen wohl wegen seines fortgeschrittenen Krebsleidens nicht mehr zustande. Die wissenschaftlichen Arbeiten Professor Tannebergers und seine ethischen Überlegungen sollten nicht in Vergessenheit geraten.
Dr. med. Gerhard Machalett, Siedenbollentin
Quelle: http://www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2020/RF-264-01-20.pdf