Wirtschaft gesund – Menschen krank
Insofern trägt die massenweise emotionale Deformierung der Menschen, die mit unsäglichem individuellem Leid und zwischenmenschlicher Entfremdung einhergeht ist und gesellschaftlich ein großes Gewaltpotential hervortreibt, auch noch dazu bei, die Produktivität der Wirtschaft zu steigern. Erich Fromm, einer der großen durch Psychoanalyse und Marxismus geprägten Sozialpsychologen, hat diese Erkenntnis einmal auf den Punkt gebracht: “Damit diese Wirtschaft gesund ist, müssen die Menschen krank sein”.
Das kapitalistische System scheint von der emotionalen Massenerkrankung der Menschen aber nicht nur zu profitieren, sondern sie auch immer wieder selbst hervorzutreiben und zu verstärken. Die emotionale Entwurzelung des Menschen (zum Beispiel durch die weitgehende Zerstörung des Körperkontakts zwischen Mutter und Baby) hat sich historisch parallel mit der
ökonomischen Entwurzelung der Menschen von ihren Produktions- und Lebensgrundlagen entwickelt.
Je mehr ich mich selbst mit den psychoanalytischen und sexualökonomischen Erkenntnissen und Erfahrungen vertraut machte, um so absurder erschien mir die neoklassische Theorie der “optimalen Allokation der Ressourcen” auf der Grundlage angeblich rationalen Konsumverhaltens aller Haushalte. Worum es sich in unserem Wirtschaftssystem vielmehr in erster Linie zu handeln schien, war (und ist) die “optimale Allokation des Kapitals” im Sinne höchstmöglicher Rendite, die keinesfalls mit der optimalen Entfaltung menschlichen Potentials gleichzusetzen ist. Im Gegenteil: Beide Ziele können fundamental miteinander in Konflikt geraten. Und dieser wesentliche Konflikt wird von der bürgerlichen Ökonomie nicht einmal im Ansatz thematisiert, sondern bereits in den Grundbegriffen insbesondere der neoklassischen Theorie verdrängt. In diesen Grundbegriffen kommt der Mensch überhaupt nicht vor, und schon gar nicht mit seinen existentiellen primären Bedürfnissen, deren Unterdrückung ihn krank und destruktiv werden läßt – und deren Entfaltung ihn in höchstem Maße innerlich erfüllt.
Aus: Bernd Senf: Der kranke Wohlstand