Das Gesundheitstribunal
„Ich bin seit der Ausbildung vier Jahre im Beruf. Im Moment bin ich auf einer Station, wo die Patienten ihre Krebs-Diagnose bekommen und dann auch Betreuung brauchen. Aber das können wir bei unserer Personalsituation nicht genug leisten. […] Wenn ich in England bin und erzähle, dass ich eine nurse bin, dann sagen immer alle: ´Wow, krass, toll!´ Und hier kommt immer: ´Echt? Das tust du dir an?´“
Dies sind Aussagen einer Krankenpflegerin, die im neuen Theaterstück von Volker Lösch (als Regisseur und Koautor) und Ulf Schmidt (als Autor) selbst auf der Bühne steht. In einem Kreis mit fünf anderen männlichen und weiblichen Pflegekräften. Zusammen mit fünf Profischauspielern. Bereits dieses Zusammenspiel macht das „Gesundheitstribunal“ zu etwas Besonderem. Ein Zusammenspiel von Schauspielern, die leidenschaftlich agieren, und Beschäftigten, die vom eigenen Leiden und dem Leiden der ihnen Anvertrauten authentisch berichten.
Die Premiere des Stücks fand am 13. September im Hof der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin – besser bekannt als „ND-Gebäude“ – statt. Rund 300 Interessierte verfolgten das Stück auf beiden Seiten der „Bühne“, die eine Art breiter Laufsteg war, der den Innenhof teilte. Eine dort bereits vorhandene Außentreppe war mit dem Laufsteg verbunden; sie wurde in die Inszenierung wirkungsvoll integriert.
Bereits die ersten Sätze verdeutlichten: Das Publikum selbst wird Akteur.
Richter: Meine Damen und Herren. / Ich erkläre das / Gesundheitstribunal! / für eröffnet. / Verhandelt wird / eine Klage gegen das bestehende / Gesundheitssystem. / Mit dem Schwerpunkt der Krankenhausversorgung. / Die Verteidigung beantragt / Abweisung der Klage. / Vertreter beider Parteien / und ihre Zeugen / sind erschienen. / Das Urteil / wird durch das anwesende Publikum / per Mehrheitsentscheid / gefällt. / Ich fordere beide Parteien / zur Fairness / und zum respektvollen Umgang /miteinander auf. / Der Kläger / möge mit seinem Vortrag beginnen. / Ihre Zeit läuft.
Die Zeugen der Anklage – u.a. ein ehemaliger Chefarzt, eine Chefärztin und eine Personalrätin – führen in die Politische Ökonomie des Gesundheitssystems ein. Erläutern, dass dieses in Deutschland den neoliberalen Vorgaben in besonders radikaler Form folgt. Deutschland sei hier „einzigartig“ („Kein Land der Welt hat die Finanzierungsgrundlagen seiner Krankenhäuser so radikal umgekrempelt wie wir. Woanders wurde das auch probiert, das mit den Fallpauschalen, aber ganz anders eingesetzt – zur Qualitätssicherung […] Halt nicht so wie in Deutschland, als allgemeines Preissystem.“).
Den Begriff „Fallpauschalen“ kennt inzwischen wohl jeder. Auch wissen viele, dass dieser Maßstab aus Patientensicht kritisch gesehen werden kann. Solange man nicht selbst betroffen ist und solange man sich nicht in die Materie hineinkniet, ist dieses Wissen jedoch meist eher vage. Das Tribunal hilft auf die Sprünge.
Klägerin: Könnte man sagen, dass das Fallpauschalensystem seit 2004 jeden Patienten zu so etwas wie einer ökonomisch kalkulierten Kostenstelle gemacht hat? – Ehemaliger Chefarzt: Ja, genau. Wenn die Behandlung teurer als die Pauschale ist, muss man das Geld entweder an anderen Patienten wieder einsparen oder das Krankenhaus landet in den roten Zahlen.
So die allgemeine Definition. Der Patient als Kostenstelle, das Krankenhaus als Wirtschaftsbetrieb. Ein durchrationalisiertes Gesamtsystem. Ja und? Beziehungsweise: Warum eigentlich nicht? So auch die Argumentation der Verteidiger des Systems auf der Bühne. Denn auf der allgemeinen Ebene und auf den ersten Blick spricht ja einiges für ein System, das anscheinend Rationalität in den Krankenhausbetrieb bringt.
Es sind dann die konkreten Beispiele, die dargestellt und im Tribunal verhandelt werden, die die Absurdität des Ganzen verdeutlichen. Zwei besonders eindrucksvolle Fälle seien aus herausgegriffen; sie beschreiben eindrucksvoll die Perversion des Systems.
Kaiserschnitt-Boom und Beatmungs-Marathon
Klägerin: Was ist eine “lukrative Fallpauschale”? Chefärztin: Ein Beispiel: Für eine natürliche Geburt bekomme ich 1.950 Euro und blockiere eventuell stundenlang den Kreissaal. Für einen Kaiserschnitt bekomme ich 2.900 Euro und habe nach einer knappen Stunde den Saal wieder frei. Was glauben Sie, warum in Deutschland mehr als 30% der Geburten per Kaiserschnitt gemacht werden, in einzelnen Krankenhäusern sogar die Hälfte aller Geburten, während die Weltgesundheitsorganisation 10 bis 15% für realistisch und vertretbar hält? […]
Chefärztin: Wenn ich einen Patienten nach einer Herztransplantation weniger als 179 Stunden beatme, bringt das dem Krankenhaus 90.000 Euro – nach Fallpauschale A05A.
Beatme ich ihn länger als 179 Stunden, ist das Fallpauschale A05B, und bringt über 120.000 Euro. Was mache ich jetzt also, wenn der Patient aus medizinischer Perspektive nach 150 oder 160 Stunden keine Beatmung mehr braucht? Kann ich auf 30.000 Euro verzichten?
Oder lasse ich ihn einfach einen Tag länger an der Beatmung, und gehe unnötige gesundheitliche Risiken ein? Was denken Sie, was mir ein Geschäftsführer dazu sagt, der den Aktionären rechenschaftspflichtig ist?
Fußnoten in Theatertexten sind eher selten. Selbst Bertolt Brecht hat darauf in seinen „Lehrstücken“ verzichtet. Warum eigentlich? Volker Lösch und Ulf Schmidt jedenfalls arbeiten im „Gesundheitstribunal“ mit Fußnoten. 28 an der Zahl sind auf den Seiten 40 und 41 der Tribunal-Broschüre aufgelistet. Sie werden auf der Bühne nicht gesprochen; das dann doch wieder nicht. Für das Publikum ist es allerdings spannend, sich die hier gelieferten Belege (z.B. nach der Aufführung) genauer anzuschauen und mit den zitierten Studien oder den angeführten Artikeln aus Zeitschriften dokumentiert zu bekommen, dass all das, was da an Abenteuerlich-Abschreckendem auf dem Bühnen-Laufsteg ausgeführt wird, der kranken Wirklichkeit entspricht.
Wenn dann im Tribunal der Chor auftritt und mit dem Blick der Pflegekräfte den Alltag beschreibt:
Ein normaler Tag / sieht so aus: / Ich habe ein Intensivzimmer / mit 3 Patienten, / alle 3 beatmet. / Ein Patient / hat die Narkose nicht verkraftet / und ist verwirrt, /wird zum Teil bettflüchtig. / Der zweite hat ALS, / ist also völlig gelähmt, / bekommt aber alles mit. /Der dritte / soll vom Beatmungsgerät entwöhnt werden, / und ist psychisch sehr auffällig. /Plötzlich bekommt einer Panik. // Es ist oft so, / dass Patienten Angst bekommen / zu ersticken. / Ich bin nun länger mit ihm beschäftigt, / um ihn zu beruhigen. / Wenn nun ein anderer / aus dem Bett fällt, / muss er warten./ Sollte der aber auch/ noch Panik bekommen, / muss ich das medikamentös lösen. / Dabei hätte man es / mit einem Gespräch / besserhinbekommen. /
dann wirkt das authentisch, weil es authentisch ist. Der Umstand, dass dieser Pflegekräfte-Laienchor gelegentlich den Text holprig rüberbringt, unterstreicht gewissermaßen die Authentizität noch. Diese sind ja keine Theaterprofis. Auch wenn sie im Alltag Krankenhaus-Theater erleben, ein Schmierentheater, in dem das Gesundheitssystem im Allgemeinen und die Fallpauschalen-Logik im Besonderen als „rational“ dargestellt werden, es jedoch allen Insidern bewusst ist, dass nicht die Gesundheit, sondern der Profit die „Mutter aller Fallpauschalen“ ist. Würden sie die Texte im geölten Redefluss vortragen, wäre das fast wieder zu „glatt“.
Volker Lösch zu den Umständen der Tribunal-Theater-Produktion: „Es war sehr schwierig, Pflegekräfte zu finden, da es die Arbeitsbedingungen eigentlich nicht zulassen. Und das Ganze ist ein regelrechtes Harakiri- Unternehmen, weil wir nur zweieinhalb Wochen geprobt haben. Normalerweise hat man für so ein Vorhaben acht Wochen Zeit. Aber die Spieler sind sehr gut und, auch die Laien sind begabt […] Sie hatten nur zehn Proben, aber selbst die waren bei dem stressigen Alltag und dem Schichtdienst kaum möglich.“
Sonderfall Deutschland
Wie angesprochen, ist man geneigt, die Misere des deutschen Gesundheitssystems als Resultat der allgemeinen neoliberalen Durchdringung der Gesellschaft, als weltweites Phänomen oder zumindest als eine überall in Westeuropa zu konstatierende Entwicklung zu verstehen. Schließlich gibt es EU-weit prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie hierzulande und Jobstrukturen wie Hartz IV. Überall in Europa werden die Bahnen privatisiert. Überall wird das Studium an den Bedürfnissen des Kapitals ausgerichtet. Und just so wird es eben auch im Gesundheitssektor sein.
Wäre es so, machte ein Gesundheitstribunal natürlich auch Sinn. Und natürlich wäre es auch dann sinnvoll, sich mit Appellen, Demos und Streiks gegen dieses krankmachende Gesundheitssystem zu stemmen. Verblüffend ist jedoch: Deutschland ist „Negativ-Avantgarde“ in diesem Prozess der Zerstörung.
Personalrätin: 2010 wurde eine international vergleichende Untersuchung zur personellen Besetzung des Pflegedienstes im Krankenhaus in 12 europäischen Ländern gemacht.Die hat ergeben, dass deutsche Krankenhäuser mit Abstand am schlechtesten personell besetzt sind. Und es hat sich seitdem nicht verbessert. […] Während 2010 in Deutschland 100 Krankenhauspatienten von lediglich 12 Pflegekräften versorgt wurden, waren es beispielsweise in England 23 Pflegkräfte, in der Schweiz 29 Pflegekräfte, in den Niederlanden 30 und in Norwegen sogar 43 Pflegkräfte. Kläger: In Norwegen versorgt eine Pflegekraft also zwei Patienten, in Deutschland muss sich eine Pflegekraft um neun Patienten kümmern. Ist das so? Personalrätin: Ungefähr, ja.
Die Macher des „Gesundheitstribunal“ behaupten, in diesem würden das Pro und Contra in Sachen Gesundheitssystem objektiv wiedergegeben. Sagen wir es so: Das Contra hat die deutlich besseren Argumente. Das entspricht ja auch der Wirklichkeit. Die Position „Verteidigung des Gesundheitssystems im Allgemeinen und der Fallpauschalen-Logik im Besonderen“ wird prominent von „Herrn Professor Doktor Bernd Raffelhüschen“ vorgetragen, dessen Nebenjobs und Zusatzverdienste („Er ist Wirtschaftswissenschaftler mit Ausrichtung auf Finanzwissenschaft und […] hat Professuren an der Universität Bergen und an der Universität Freiburg, […] ist Mitglied des Vorstands der „Stiftung Marktwirtschaft“ […] Botschafter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, […] Aufsichtsrat bei der ERGO Versicherung, der Volksbank Freiburg …“). Dessen Hauptargument lautet: Die Patientinnen und Patienten sind selbst schuld, wenn sie Patientinnen und Patienten werden. Nicht das System ist krank, sondern:
Raffelhüschen: Aber wer ist denn schuld daran? Die Patienten selber! […] Die Menschen schaden ihrer eigenen Gesundheit auf Kosten der Gemeinschaft. Deutschland hat eine der höchsten Alkoholkonsumraten pro Kopf. Es rauchen zu viele Menschen, essen zu viel Fett, zu viel Zucker. Zu viel Übergewicht! Es liegt also nicht in erster Linie am mangelnden Geld, dass das Gesundheitssystem dabei ist, unbezahlbar zu werden. Sondern an einem Fehlverhalten der Bürger – insbesondere bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen, der begegnet werden muss.“
Hier hat dann das Publikum das Wort. Der Regisseur ahnt, wie das Votum ausfallen wird und eilt nach vorn und gesellt sich zum Publikum. Am Ende stimmen alle der Anklage zu – mit Ausnahme von Volker Lösch und einer weiblichen Person.
Richter: Die Mehrheit der Jury! / hat im Sinne der Verteidigung / entschieden. / Die Klage ist abgewiesen. Klägerin: Wir werden in Berufung gehen.
Das müsse nicht immer so ausfallen, argumentiert Volker Lösch im Interview: „Wir haben […] immer noch das Ziel, damit in die Berliner Kieze zu gehen. Anstelle einer Aufführung, die die Leute ins Theater kommen lässt. Denn dann wird es interessant: Wie stimmen die Zuschauer in Zehlendorf und Wannsee ab und wie in Neukölln oder Schöneberg? Die Ergebnisse werden sicher unterschiedlich sein.“
Dann allerdings müsste der Tribunal-Schluss komplett umgeschrieben werden. In der Premiere – und in einer weiteren Aufführung, die am 15. September am selben Ort stattfand – agierte der Chor der Pflegekräfte nochmals wie in einem Brechtschen Lehrstück – und hier ohne Fußnoten. Die Chor-Passagen sind, so die Tribunal-Autoren, „verdichtete Originalzitate aus von uns geführten Interviews mit Pflegerinnen und Pflegern.
Krankenhäuser sind keine / Anlageobjekte. / Der einzig wünschenswerte / Profit des Gesundheitssystems / ist die Gesundheit der Patienten / und der Mitarbeiter. / Fallpauschalen / gehören abgeschafft! / […] Wir halten nicht nur / Stationen am Laufen, / wir sind da für die Menschen, / wir kennen ihre Sorgen / und ihre Probleme am besten. / Wir wollen gehört werden! / Wir wollen auf Augenhöhe / mit Ärzten sein. / Ihr habt uns medizinisch ausgebildet, / dann hört auch, / was wir medizinisch / zu sagen haben! // Und wir wollen / eine angemessene Bezahlung / für unsere Arbeit. / Von unsrem Gehalt / kann eine Familie nicht leben. / Von unserer Arbeit / profitieren die Menschen mehr / als von Anlageberatern. // Wir sind keine Karbolnutten, / mit denen sich Kaufleute / den Hintern abwischen, / mit denen man umspringen kann, / wie es gerade beliebt, / […] Wir bezahlen mit Stress, / Unzufriedenheit, / Verzweiflung und Burnout / Für euer / profitgetriebenes System. / Wir lassen uns nicht / gegen die Wand fahren von euch! // Es muss ein neues System her, / das den Bedürfnissen gerecht wird. / Den Bedürfnissen der Patienten. // Und den Bedürfnissen / der Pflegerinnen und Pfleger. // Das Tribunal ist beendet. / Gute Nacht.
Da bleibt zu hoffen, dass man bei verdi entdeckt, welch einen bislang noch verborgenen Goldschatz Volker Lösch, Ulf Schmidt und das Team des Gesundheitstribunal ihnen geliefert haben: Das Stück sollte bundesweit auf Tournee gehen. Und an vielen Orten – beispielsweise solchen mit großen Profitcenter-Kliniken – zur Aufführung gelangen. Auch hier jeweils unter Einbeziehung von Pflegekräften von vor Ort.
Urs-Bonifaz Kohler lebt in Basel und war im Sommer mehrere Wochen lang auf Berlin-Besuch. Zuletzt schrieb er in LP21, Heft 41, unter dem Titel Raubtierkapitalismus eben über Trump (Firma US) und Kaeser (Firma Siemens) in Davos.